© Fotoarchiv Helena Melikov

Du bist mein Wind

von Charlotte Kunstmann

Ich lebe in einer singenden Stadt.

Ich bin umgeben von Tönen, Tag und Nacht.

Der Wind hier, der ist anders, als der in meiner Heimat. Er flötet und pfeift meist leise und feige.

Der Nordseewind ist lauter, fordernder.

Er packt dich, will, dass du ihn bemerkst. Er ist arrogant und exzentrisch.

Wild, weich und weise zugleich. Manchmal will er dich zur Begrüßung nur umarmen. Meistens jedoch greift er nach dir, um dich an die Küste ziehen.

Wenn ich dann nach Hause fahre und mir die Möwen schon am Bahnsteig vom Meer erzählen, dann packt mich diese Sehnsucht. Ich will, dass der Wind zum Sturm wird.

Dass er mich nimmt, mich ins Straucheln bringt und herumwirbelt,

mich bis ans Meer trägt und auf dem kalten, klebrigen Sand ablässt.

Und während die Flut naht und der Wind mir das Haar zerzaust, in tausend Knoten schon,

da pustet er mit all seiner Kraft meine kreisenden Gedanken fort,

sodass es in seinem lauten Atem ganz still in mir wird.

Die Sorgen klatschen ins Meer, finden keinen Halt.

Sie brodeln, zischen, ertrinken in der nächsten Welle: dann Frieden.

Ich kenne keinen schöneren Ton.

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Ohrwürmer

Mit singenden Würmern in den Ohren
und zur Kakofonie der Ketten unter meinen Fingerkuppen,
pendle ich im Gleichtakt
den Schlüssel des Lebens entlang

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