© Fotoarchiv Helena Melikov

Brief an Ruth

von Ani Menua

Liebste Ruth,

 

Sie hielten Ihr Versprechen: Ich habe das Foto erhalten. Nichts anderes bleibt mir übrig als zu sagen, dass Sie eine talentierte junge Frau sind und wenn die Fotografie Ihre Leidenschaft ist, dann folgen Sie ihr. Diese Welt halten Träumer und Liebende, wie Sie, am Leben. Das Foto löste viele Erinnerungen in mir aus, die mir so teuer sind, dass ich sie in den Tiefen meiner Seele vor der Rohheit der Welt verschlossen und beschützt halte. Da ich in Ihrem Blick auf die Welt jemanden aus meiner Vergangenheit wiedererkannte, will ich Ihnen erzählen, wen:

 

Als ich etwa in Ihrem Alter war, viele Jahre vor dem Krieg, lebte ich in Berlin. Es war die schönste Zeit meines Lebens – frei, berauschend und wild. Wir waren Ende Zwanzig, die Welt lag uns zu Füßen – wir entdeckten sie neu, wir schrieben sie neu und wir erschufen sie neu. Ich hatte das unfassbare Glück die schönste Frau der Welt zu lieben und von der schönsten Frau der Welt geliebt worden zu sein. Sie hatte dunkelgrüne- braune Augen und braune, fast schwarz anmutende Haare, die sie immer kurz trug. Die kurzen Haare betonten die Konturen ihres Gesichtes und Halses, die mit kleinen Muttermalen förmlich übersät waren. Sie mutete so zart an, aber das Schönste an ihr, war der falsche Eindruck, den sie durch ihre Erscheinung hinterließ. Niemand rechnete mit ihrer Schlagfertigkeit, Unbeugsamkeit und ihrem eisernen Willen. Wie Sie, war Lilith Fotografin. Während der Auslöser ihrer Kamera die Zeit anhielt, offenbarte sich ihr förmlich die Welt. Sie experimentierte mit Perspektiven, die Gegenstände aus ihrer gewohnten Erscheinung lösten und sie für das Auge völlig entfremdeten. Wir waren eine unzertrennliche Gruppe von Enthusiasten, Weltverbesserern, Träumern, Poeten und Künstlern und verbrachten die Wochenenden oft zusammen am Wannsee, im Haus meines Onkels. Unnötig an dieser Stelle darauf einzugehen, dass Hitler mit dem Vorhang seiner Abgründe unserem Traum ein Ende setzte und wir uns über alle Herrenländer verteilten. Doch bin ich jetzt voller Zuversicht, dass er in der Niederträchtigkeit seines ganzen Daseins in Dantes Hölle ewig vor sich hin schmort. Der letzte schöne Sommer, den wir alle zusammen verbrachten, war der des Jahres 1929. Lilith ging nach Paris und ich nach Zürich, einige Zeit schrieben wir uns und hörten dann einfach auf. Der letzte Brief, den ich von ihr noch habe, ist völlig trunken von ihrem Willen zu leben und zu sein. Zuletzt schrieb sie mir und verabschiedete sich von mir mit den Worten, dass sie auf dem Wege zu Hitler sei und dass sie ihn töten werde. Wissen Sie was, zu keinem Zeitpunk werde ich es jemals wagen, das zu bezweifeln: Ich bin sicher – Lilith schickte Hitler in die Hölle.

 

Sie erinnern mich an sie, Ruth. Lassen Sie sich niemals von jemanden aufhalten. Gehen Sie erhobenen Hauptes Ihren Weg, bereisen Sie die Welt und lassen Sie hin und wieder von sich hören,

 

Ihr Erich von Lilienfeld.

 

Zürich, den 19. Dezember 1946

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