© Fotoarchiv Helena Melikov

Im Sommer 1929

von Ani Menua

Was siehst du, wenn du mich auf dem Bild betrachtest. Ja, das bin ich. Mit 28 Jahren. Meine Güte, war ich jung! Du denkst vielleicht: Glücklich siehst du aus. Vielleicht war ich es sogar für einen Moment. Ich lächele.

 

Ich kann mich an diesen Tag erinnern, glücklich war ich an jenem Tag. Es war einer dieser verheißungsvollen warmen Sommertage des Juli 1929. Wie sehr ich das Wasser liebe …

 

Die Luft roch nach süßem Nektar und schmeckte nach zartem Zuckerwattenkuss. Die Natur spielte uns eine Symphonie: Ich hörte die Grashüpfer um die Wette springen, die Bienen um die Blumen sausen, den leichten Wind über die Wasseroberfläche tänzeln und durch mein kurzes Haar streifen, die Vögel ihre Geliebten besingen. Es war einer dieser Tage, an dem ich mir vorstellte, Macht über die Zeit zu haben, sie anzuhalten und zu verweilen, das Glücksgefühl durch meine Adern fließen zu lassen und meinen Körper von ihm gänzlich besetzen zu lassen. Lisa, Erich und ich verbrachten viel Zeit am Wannsee. Erichs Onkel hatte ein Wochenendhaus dort und lud uns oft zu sich ein. Er liebte den Umstand von jungen Menschen umgeben zu sein. Wir fühlten uns frei und entzogen uns dem verderbten Sog Berlins, wenigstens für ein paar Stunden. Erich machte diesen Schnappschuss von mir auf dem Wassersteg. Ich war völlig in diesen lauen Sommerabend versunken und bemerkte nicht, wie er sich langsam an mich heranpirschte, meinen Namen liebevoll rief und auf den Auslöser drückte.

 

Wer hätte ahnen können, was die Geschichte mit uns macht, dass sie uns trennt, dass sie uns quält und peinigt, dass sie uns fast ohne Hoffnung krepieren lässt, dass sie uns alleine lässt, dass sie uns alles, was uns lieb und teuer ist, wegreißt, dass sie uns nicht schont, dass sie uns in ständige Furcht und Schrecken wiegt, dass sie uns den letzten Tropfen Würde nimmt und manche von uns doch überleben lässt. Es gibt keine Antwort auf das Warum.

 

Der Sommer ist ein charmanter Betrüger, durch die Liebkosung der Sonne vergisst du, was deine Seele betrübt, solange der Sommer dein Ehrengast ist, bleibt dein Gemüt ungetrübt. Es sollte unser letzter gemeinsamer Tag am Wannsee werden. Das Schönste an dieser Erinnerung ist die grenzenlose Hoffnung, die ich damals verspürte, die die warmen Sonnenstrahlen mir versprachen und die sich wie ein weißer Schleier um mich legte.

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