© Fotoarchiv Helena Melikov

Wachwandler

von Leonie Lefeber (Klasse 12)

An Gesa.

 

Da ist Staub auf deiner Kamera. Ich weiß noch, als ich keinen Schritt machen konnte, ohne vom Surren und Knipsen verfolgt zu werden. Du wolltest alles festhalten, mit diesem wunderlichen Ding Erinnerungen für das Morgen schaffen. Wir waren am Strand mit Torben und Marnie, 14 Monate vor unserem Abschied und du hast Fotos gemacht wie eine Verrückte. Und du warst gut. Du lässt das Gestern wirklich aufblühen, lässt uns jünger, schöner, stärker aussehen, als wir waren, denn wer erinnert sich schon noch an das kalte Wasser und die dunklen Wolken am Horizont, wenn man unsere strahlenden Gesichter auf dem Foto sieht?

 

Heute machst du keine Fotos mehr, Gesa. Schon gar nicht von mir. Heute fällt es dir schwer mich anzusehen und du willst nicht festhalten, wie ich dir gegenübersitze und dein Wegsehen erwidere. Du hast gelernt, dass man im Heute nicht alle Erinnerungen an das Gestern wertschätzt und du hast gelernt, dem Morgen bestimmte Erinnerungen zu ersparen. Gäbe es einen großen Verbrennungsofen für Erinnerungen, du würdest ihn heute füttern mit derselben Inbrunst, mit der du früher Erinnerungen eingefangen hast.

 

Also verstaubt die Kamera. Und du lässt sie. Ebenso wie du mich die Tage durchschlafen lässt.

 

Deiner Freundin Bette hast du erzählt, ich würde schlafwandeln. Das weiß ich, weil ich wach war, als ihr neben dem Sofa standet und euch zu mir heruntergebeugt habt. Ich habe dein Parfüm gerochen, noch immer das alte wie damals, nicht alles verändert sich. Ich würde schlafwandeln, hast du gesagt und dann wäre ich tagsüber manchmal so müde, dass ich gar nicht anders könnte, als zu schlafen. In den Nächten würde ich durchs Haus schleichen mit glasigen Augen. Ich weiß nicht, ob du das glaubst oder ob du lügst für mich oder für dich. Mein Blick ist niemals glasig in der Nacht und ich bin auch kein Schlafwandler.   Deine Freundin Bette aber hat mit Verständnis reagiert. Männern wie mir verzeiht man vieles, weil alles was wir heute tun auf das große Dunkle Gestern zurückgeführt wird. Die Männer, die wir vorher waren, hatten die Verantwortung, sich selbst zu etwas zu machen. Die Männer, die wir jetzt sind, wurden gemacht. Und was immer es ist, was er aus uns gemacht hat, ist sein Fehler, denn niemand mag unseren Erschaffer. Ich könnte nachts laut johlend mit der Flasche durch die Straßen tanzen und der dreckige Straßenboden würde mehr Blicke ernten als ich.

Deine Freundin Bette reagiert also mit Verständnis. Das hätte sie auch, hättest du ihr die Wahrheit gesagt, Gesa. Denn Männer wie mich gibt es zu tausenden. Männer, die am Tag schlafwandeln und in der Nacht wachwandeln.

 

Ein Zischen, dann wirft das Kerzenlicht seinen Schein über den Küchentisch. Ich setze mich, hole Stift und Papier hervor und beginne zu schreiben. Ich beginne mit dem Staub auf deiner Kamera. Setze mich zurück an den Anfang der Nacht, als dein Atmen seinen Rhythmus fand und ich wusste, es war an der Zeit aufzustehen. Früher habe ich Gedichte geschrieben, heute nur noch Briefe.

Früher konnte ich der Welt allerlei schöne Worte in den Mund legen, die sie nie gesagt und nie gemeint hatte und mir einreden, ich hätte etwas zu sagen.

Heute, da Menschen, allen voran du, hören wollen, was ich zu sagen habe, ist mein Mund leer und trocken und jede Quelle schöner Worte, die sich einst so eitel auf hunderte kleine Zettelchen ergossen hat, ist versiegt.

Also Briefe. Tun wir so, als wäre ich noch fort und dir noch so nahe, wie unsere Vorstellungskraft es uns erlaubt hat. Lass mich schreiben an dich und lass mich schlafen, bis ich irgendwann aufwache, zum Knipsen deiner Kamera und mit tausend geschriebenen Wörtern in Gedanken.

 

Du liegst im Bett und träumst. Deine dunkle Gestalt ist das Einzige, was sich bewegt. Dein Brustkorb senkt und hebt sich, hebt dich ab vom Dunkel des Bettes. Ich setze mich auf das Sofa gegenüber von deinem Bett. In der Nacht ist es leicht dich anzusehen. Es unterscheidet sich

 

von der Art, wie ich dich früher angesehen habe, als du neben mir schliefst mit deinem Gesicht nahe an meinem und deiner schlaffen Hand zwischen uns auf dem Laken. Wenn ich dich aus der Ferne ansehe, frage ich mich, ob du möchtest, dass ich dich so ansehe oder ob du dir die Zeit zurückwünschst, in der wir nebeneinander lagen. In der Zeit, in der ich dich in alle meine Gedichte eingeschrieben und du mich in all deinen Fotos eingefangen hast.

Aber vielleicht waren wir so lange getrennt, dass wir gelernt haben, uns nur noch aus der Ferne zu sehen und vielleicht wird es von jetzt an immer so bleiben. Kein Zusammenleben, wie wir es einst wollten, aber immerhin ein geteiltes Leben.

So bleibe ich noch eine Weile hier sitzen und warte auf den Tag. Warte auf Lärm und grelles Licht. Warte darauf, dass der Tag seine tausend Münder öffnet und warte auf Träume voll vom Gestern und leer vom Morgen. Morgen Nacht werde ich dir vielleicht erzählen, wovon ich träume. Wenn du weder wegsehen noch weinen, noch Trost spenden kannst, sondern tief verfangen bist in deinen Träumen vom Morgen.

Träumen, in denen ich dir nicht schlafwandelnd folge, sondern wach vorangehe in eine Zukunft, die ich uns einst mit tausend Briefen versprochen habe.

 

Licht fällt durch die Vorhänge ins Schlafzimmer. Scheint hell auf die fremden Möbel. Sie brüllen mir die Zeit entgegen, die vergangen ist zwischen Abschied und Heimkehr.

 

Als sich deine Augen öffnen, schließen sich meine.

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