© Fotoarchiv Helena Melikov

Nie m a n d

von Aleksej Tikhonov

Eiserne Kälte. Das Laub liegt still. Doch nicht unter deinen Füßen. Auch nicht in ihrer Nähe. Der Boden ist fest und kahl. Die Oberfläche gleicht einem Stein. Einem Menhir, der umgekippt ist und sich in den Tiefen des Waldes versteckt hat, umgeben von einem Teppich aus Nadeln, die schon bald eins mit der Erde werden. Nur die fast entblößten Bäume schauen dich an. Ihr Blick ist nicht zu spüren. Die Atemzüge sind kaum zu hören. Der Wind übertönt sie. Wie Silber zeichnet sich das Netz deiner Haut am Himmelbogen ab. Mit jedem Tropfen fließt die Milch der Nacht immer mehr über den Horizont hinaus, über seine Grenzen hinweg. Die Trennlinie schwindet dahin und die weiße Nacht wechselt geschwind die Dämmerung ab. Von der Sonne zum Mond, vom Mond zu deiner Hand, von deiner Hand zu meinen Augen, von meinen Augen zu meinen Fingerspitzen, von den Fingerspitzen zum Verstand. Ein unsichtbares Feuer entfacht sich in den Brustkörben und den Fäusten, die sich lösen, alsbald das brennende Wasser sie erreicht. Die Gedanken sind frei. Die Wände der Schädel grenzen sie ein. Sperren sie ein. Allein. 

 

Miteinander, Hand in Hand, gemeinsam, wirksam. Tropfen an der Stirn. Bäume verschwinden. Die Flammen der Gier fressen sie auf. Nur zwei Möwen versuchen auf einem Blatt zu landen. Wird es reichen? Eiserne Faust. Alte Schule. Eiserne Vorhänge. Alte Lehrbücher. Alte Werte. Ein Strahl in Richtung Paradies. Eine Reinkarnation rammt die Zielgerade drei Mal – zwei Mal gleich dem Horizont und ein einziges Mal quer – von links oben nach rechts unten. Schwarze Kreuze, grüne Mauern, rotes Blut.       

 

Nie m a n d ist dir ein Herr. Lass die schleierhaften schroffen Überbleibsel hinter dir. Nie m a n d ist hinter dir her. Nächstenliebe, Menschenliebe, ohne wenn und aber, jetzt und hier. Ohne Kreuze, ohne Balken, ohne Galgen, ohne Köpfmaschinen. Mir ergeht es nicht wie dir. Mir kann es nicht wie dir ergehen. Ein Versuch zu schweigen, ein Versuch zu gehen, ein Versuch zu helfen ohne zu übertreiben. Wörter im Netz und Netze aus Wörtern sind nicht genug, Taten müssen folgen und sie folgen. Hier sind sie. Hier bist du. Frei, unbeugsam und in der Hand das Buch.       

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