© Fotoarchiv Helena Melikov

Ohne Titel

von Nuana de Reese (Klasse 13)

Der Zug lehnt sich nach links, ich stoße mit der Schulter gegen meinen Sitznachbarn und entschuldige mich leise. Ein leerer Blick und ein Nicken ist ihre Antwort.

 

Ich wende mich ab, sehe in die Fensterscheibe, erschrecke, wende mich auch von mir ab.

Der gleiche leere Blick, die gleichen Augenringe, die gleiche Hoffnungslosigkeit im Ausdruck.

Meine Finger halten den Schal fester, der auf meinem Schoß liegt, versuchen die Fäden, die sich lösen zurück in das Gewebe zu bekommen.

Mein Blick wandert zurück zum Fenster, aber ich sehe nur mich. So eingefallen. So müde.

Meine Wangenknochen wirken unnatürlich hoch, meine Lippen sind trocken und zu oft reiße ich mit meinen Zähnen Stücke von ihr. Stress, wurde mir gesagt.

 

Ich erkenne mich nicht wieder.

Ja, ich weiß nicht mal, wann ich das letzte Mal wirklich in einen Spiegel geschaut hatte.

Eine Hand legt sich auf meine Schulter, eine andere reicht mir etwas.

Die Frau neben mir lächelt mich an, hält mir ein Brot hin.

„Sie fahren seit Stunden, Sie sollten was essen.“

Kurz bin ich erstarrt. Berührungen hießen die letzten Jahre nichts Gutes.

 

Und auf einmal habe ich das Brot in der Hand, beiße hinein, spüre, wie mein Körper allein beim Gefühl von Essen in meinem Mund rebelliert.

„Danke“, nuschle ich schnell, sehe hinauf zu den anderen Fahrgästen und bereue es zugleich.

Alle hier sehen müde aus.

Die Hand reicht mir noch was. Ein Bild.

„Kennen Sie ihn?“

Das Brot scheint in meinem Mund schwer zu werden. Langsam schüttel ich den Kopf, sehe wieder zur Frau, die nickt.

„Suchen Sie ihn?“

Was für eine Frage, natürlich tut sie das.

Keiner ist hier, um in den Urlaub zu fahren.

Kurz ist es still. Ich höre die Gleise unter mir in einem langsamen Rhythmus klappern, höre wie die Räder sich schwerfällig drehen, den Wind, der durch ein Fenster ein paar Reihen hinter uns zieht.

Die Frau sieht mich an. Ich sehe sie an, sie steckt das Foto weg.

„Suchen Sie denn jemanden?“

Ihre traurigen Augen mustern mich. Bleiben am armseligen grau-braunen Mantel hängen.

Ich schüttle den Kopf, tippe ans Fenster.

„Nach Hause.“

Sie nickt, sieht auf das Bild und das Herz scheint mir zu zerreißen.

Er kommt nicht nach Hause.

„Sie werden ihn finden“

Sie sieht mich an, nickt und wir beide wissen, dass es eine Lüge ist. Aber Lügen haben alle hier die letzten Jahre über Wasser gehalten. Vielleicht haben wir deswegen jetzt das Gefühl zu ertrinken. Ich schließe die Augen, lehne meinen Kopf gegen das Fenster und genieße das leichte Vibrieren des Zuges, der mir verspricht, dass es weitergeht.

 

Als ich die Augen öffne stehe ich vor dem Abhang, der direkt hinter dem Haus meiner Eltern den Blick auf die dichten Wälder Thüringens freigibt.

 

Es liegt Schnee, so viel, dass ich meine Beine hochheben muss, um voranzukommen.

Kinderlachen lässt mich aufhorchen, meinen Kopf drehen.

Zwei Gestalten auf einem Schlitten Rasen an mir vorbei, Schnee fliegt mir ins Gesicht und verdeckt mir kurz die Sicht.

Ich muss lachen, eine Leichtigkeit breitet sich in meinem Körper aus, die ich seit Jahren so nicht mehr gespürt habe.

In meiner linken Hand spüre ich ein Seil, etwas sagt mir, dass ein Schlitten in meiner Hand liegt.

Also stapfe ich los. Den Hügel hinauf, den Stimmen hinterher.

Vor mir stehen auf einmal zwei Leute, zwei junge Männer.

Sie ziehen einen Schlitten wie ich, lachen mich an, rennen den Hang hoch.

Ich fliege hinterher, noch nie war es so leicht gewesen zu rennen.

Der Schnee tobt um mich herum und als ich oben angekommen bin und mich umdrehe bietet sich mir ein Schaubild wie ich es liebe.

Alles ist weiß. Die Häuser, die Bäume, selbst die Kirche im Nachbarort ragt wie ein Eiszapfen in die Landschaft. Der Schnee legt sich sanft auf meine Hände, ich sehe die kleinen Kristalle vor meinen Augen schmelzen.

Die Männer neben mir stellen den Schlitten auf, sehen mich herausfordernd an, grinsen und ich weiß, was zu tun ist.

Sekunden später bin ich auf dem Weg nach unten, lache laut, sehe mich nach meinen Konkurrenten um.

Sie sind kurz hinter mir, heben die Fäuste.

Ich lehne mich nach vorne, würde dem Schlitten am Liebsten die Sporen geben, fahre zusammen, als es auf einmal knallt.

Schnee spritzt, schlägt mir ins Gesicht, ist auf einmal keine kalte Dusche, sondern prasselnde Steine.

Meine Arme heben sich schützend vor mein Gesicht, ich rolle ab.

Nicht in den weichen Schnee.

In die harte Wirklichkeit.

Um mich herum wird geschrien, Schüsse fallen. Als ich meine Arme wieder von meinem Gesicht nehme klebt Blut an ihnen, rinnt an meinen Ärmeln herab.

Mein Mund verzieht sich zu einem stillen Schrei, Panik steigt in mir auf. So unbändig und gewaltig, dass ich kaum atmen kann. Sie schnürt mir die Kehle zu, als ich nach meinem Hals greife ist dort nur Leere.

Meine linke Hand greift nach dem Gewehr, das neben mir liegt, lädt durch.

Auf einmal spüre ich etwas an meinem Bein, sehe hinab und nur Blut.

Bis zwei Augen zu mir hinauf blinzeln, voller Angst, ein getriebenes Tier.

Blut. So viel Blut.

Ich taumle zurück, falle, zwei Hände haben sich um mein Bein geschlungen.

„Bitte geh nicht!“

Die zwei Augen werden zu einem Gesicht. Schleierhaft, als wäre es von einer Nebeldecke umhüllt.

Ich schüttle mein Bein, alles in mir treibt mich weg.

Wieder eine Explosion. Ich ducke mich, der Druck an meinem Bein wird stärker.

„Lass los!“, schreie ich ihm entgegen, die Augen auf den Horizont gerichtet, an dem sich tausende von kleinen Punkten abzeichnen.

Tränen steigen mir in die Augen, je fester ich das Bein zu schüttle, desto klammerartiger wird der Griff.

„Lass los!“, meine Stimme überschlägt sich, die ersten Helme sind zu erkennen.

Mein Gewehr findet den Weg vor meinem Verstand, meine Finger den Abzug vor meiner Moral.

Ein Knall, der untergeht unter den vielen. Ein leises Stöhnen, verschluckt von den Rufen anderer.

Ich schlage die Augen auf.

Mindestens zehn sich auf mich gerichtet.

Der Zug lehnt sich nach links, ich stoße mit meiner Schulter gegen die meiner Nachbarin.

„Entschuldigung“, wispre ich.

Mein Herz hämmert in meiner Brust, meine Augen trauen sich nicht meine Hände aus den Augen zu lassen.

Schnell stecke ich sie in meine Manteltaschen, grabe die Fingernägel in meinen Handballen.

Das Brot. Es ist hinuntergefallen.

Der Käse liegt auf dem Boden zwischen einer toten Kakerlake und einem Butterbrotpapier.

Noch immer versperrt ein riesiger Pfropfen in meinem Hals der Luft ihren Weg.

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