© Fotoarchiv Helena Melikov

Vergeben und Vergessen sind halt eben keine WG

von Chris Born

Das Klingelschild ist noch immer das alte Ding aus Messing, welches dein Mann dir geschenkt hat. Dein Name ist in verblichenen Lettern immer noch lesbar, nur nicht mehr ganz so klar wie früher. Die schwarzen Buchstaben haben Wind und Wetter in ein Grau verwandelt. Ein Tribut an die Zeit, wie Blumen in einer Vase vertrocknen, doch immer noch klar erkennbar bleiben was sie sind. Genauso wie deine Stimme nicht mehr so klar ist wie früher, dennoch Deine. Über die Gegensprechanlage fragst du wer es wagt unangekündigt bei dir zu klingeln, nur um deinen Tagesablauf aus den immer gleichen Abläufen zu reißen.

 

»Ja?«
»Ich bin‘s.«
»Wer?«

         »Hätte ich vorher anrufen sollen?”, frag ich. In der knisternden Stille zwischen uns ist förmlich hörbar wie Verstand arbeitet und versucht meine Stimme einem Bild zuzuordnen. Dein Scharfsinn verwelkt, wie die Blumen in der Vase.«

 

Deine Gedanken sind nun vielmehr wie eines der Memories, welche wir immer gemeinsam spielten. Du deckst eine kleine Karte auf, brauchst aber viel zu lange, um ihr Gegenstück zu finden. Wie lange es wohl noch dauern wird, bis deine Hände zittrig nur noch die papiernen Rückseiten abtasten und nicht mehr finden? Irgendwann gar nicht mehr suchen?

 

»Oh, nein. Klar. Komm hoch.«

Im Hausflur sehe ich mich selbst. Als Kind bin ich die 3 Steigen immer in vollem Lauf hinaufgerannt. Jetzt fällt mir jeder Schritt schwer. Nicht körperlich, sondern emotional.

 

Wie immer stehst du in der Tür und wartest darauf wer sich dort wohl langsam seinen Weg nach oben in deine sichere Umgebung bahnt. Als du mich erblickst scheinst du die passende Karte zu finden. Deine Miene erhellt sich und zeigt nicht mehr die faltigen Fragezeichen, die es noch vor wenigen Augenblicken festhielt.

 

     »Na? Wie geht’s dir?«, frage ich und nehme dich kurz in den Arm. Früher wäre das niemals möglich gewesen, aber die alten Prinzipien hast du längst über Bord geworfen.

     »Kaffee?«, stellst du mir wie immer dieselbe Frage und denkst nicht im Traum daran meine zu beantworten.

     »Mit Milch.«, antworte ich und führe dich am Arm in die Küche. Meinen Mantel hänge ich auf einen der Kleiderbügel (Ob es wohl dieser war?) an die Garderobe. Hier im Flur hängen Pistolen und Musketen, die einem echten Piraten würdig wären, neben alten Rahmen, getrockneten Blumen und längst vergangener Zeit.

 

Es riecht bei dir immer besonders. Nach Oma. Wie eine Mischung aus alten Teppichen, Staub und auch ein bisschen nach Hund. Auch wenn der alte Alf doch schon längst im Garten begraben liegt. Zwei Meter tief, unter dem alten Apfelbaum. Auch viele Jahre später werde ich mich noch an diesen Geruch erinnern können, wenn du schon längst wieder mit Alf durch die Wälder läufst.

 

Jetzt sitze ich erneut hier, rühre gedankenverloren in meinem viel zu starken Kaffee. Ich schaue dir dabei zu, wie du das alte Spülbecken zum fünften Mal auswischst, wie du dich immer wieder nervös von deinem Stuhl erhebst und mich schon ganz vergessen zu haben scheinst. Genauso wie dein löchriger Verstand schon längst vergessen hat wieviel Löffel Zucker du nun schon in deiner Tasse versenkt hast.

 

Ich frag mich so oft ob da auf deinem Kopf die Dauerwelle die Wahrheit im Zaum hält, oder ob das alles ganz natürlich ist und war. Deine perfekte Frisur, deine dritten Zähne, dein falsches Lächeln hinter der erhobenen Hand und alles was du tatest, doch niemals sagtest.

 

Während wir trinken sprechen wir nur wenig und starren, an unseren gefüllten Tassen vorbei, Löcher in die dicke Luft deiner Küche. Gemeinsam wiederholen wir die ewig gleichen Plattitüden, als wäre das Alles hier nur eine Choreografie. Eine Abfolge von Tanzschritten, die ich aus dem Effeff abspule und deren Takt dir jedes Mal neu erscheint.

     »Isst du auch genug?«, frage ich.

     »Aber natürlich. Jeden Tag 3 Mahlzeiten.«, antwortest du.

     »Wie gefällt dir die Pflegekraft?«, frage ich.

     »Sehr nett.«, antwortest du.

Wie immer. Wie immer fragst du mich nichts. Wie solltest du auch? Wo ich dir doch mit jeder Woche fremder werde und du nichts mehr zu wissen scheinst, auf dessen Grund du eine Frage fußen könntest.

 

Ob wohl die schlimmen Dinge zuerst durch dein mentales Sieb gerutscht und im Abfluss des Vergessens verschwunden sind?

Oder erinnerst du dich noch? An die Dinge, die heute nur noch wir zu wissen glauben. All die schlimmen Dinge die du uns antatest, die uns von dir fernhielten und uns einfach nur auf das eigene Vergessen hoffen ließen.

 

Jetzt ist alles gut, zumindest rede ich mir das zwischen den bitteren Schlucken ein. Es ist gut, dass du vergisst, denn so kann ich zumindest versuchen meine Erinnerungen Lügen zu strafen. Du bist nicht mehr die Frau von damals. Nicht mehr die Femme fatal mit dem gespielten Lächeln, hinter dem sich so viel Schlechtes verbarg. Jetzt bist du einfach die Frau, der ich mich verpflichtet fühle, die Hilfe braucht, welche ich bereitwillig gebe. Denn vielleicht liegt ein Teil des Fehlers auf bei mir? Da ist nichts Schlechtes mehr. Dort sind nur deine ewig gleiche Dauerwelle und die Sonne, die durch deinen Hinterkopf zu leuchten scheint. Heute wirkst du auf mich fast opak, nicht mehr dunkel und angsteinflößend, wie damals als meine Nase im Stand nur bis zu deinem Bauchnabel reichte. Du bist irgendwie leiser, dünner und vor allem weniger.

 

Wie es wohl wird, wenn dein Körper irgendwann vergisst zu funktionieren? Wenn du den letzten Weg antrittst, ohne es zu merken und mir nur die schlechten Erinnerungen bleiben, die alles Helle was vielleicht war, verschlingen? Mit niemanden werde ich teilen können welches Leid ich hier in Kaffee und rücksichtsvollen Heucheleien ertränke.

 

Ich erinnere mich noch an so vieles. An jede Momentaufnahme. Jede erhobene Hand, jede unverdiente Ohrfeige, an deine tiefe, brüllende Stimme und daran, dass du deine eigene Tochter vor uns schlugst. Selbst an die Tränen kann ich mich erinnern, an den roten Abdruck auf der Wange meiner Mutter und an die Scherben auf dem Wohnzimmerboden. Das Porzellangesicht der Puppe war in tausende kleine Teile zerbrochen, aus welchen mich ein dunkles Auge genauso ungläubig und angstvoll anstarrte, wie ich mich gefühlt hatte.

 

Nach dir bleibt Nichts. Nichts außer mir. Diese Tatsache ist zugleich meine schlimmste Erinnerung. Das Wissen darum, dass du mir vor 43 Jahren die Chance genommen hast auch das Schlechte mit jemandem zu teilen der dich kannte. Mit einem Kleiderbügel hast du dir das vielleicht letzte Gute aus der Mitte geschnitten, dabei selbst dein kümmerliches Dasein fast verwirkt und mit blutigen Händen den letzten Funken Licht herausgerissen. Aus dir. Aus der Welt. Aus einer Zukunft die bald nur noch meine ist.

 

     »Noch Kaffee?«, fragst du obwohl meine Tasse noch gut gefüllt ist.

     »Nein, danke.«, antworte ich mehr mir selbst als dir.

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