© Fotoarchiv Helena Melikov

Ein Süppchen vom Hang

von Swan Collective

»Ist es vermessen, nach einem arbeitsreichen Tag ein Süppchen zu verlangen, mein Herr? Alsbald ich den Hof betrete, sollte der Kessel schon brodeln! Immerhin kommt der Groschen aus meiner Richtung, nicht? Wo ich hineingebe, da muss auch herauskommen, wo ich säe, da möchte ich ernten. Sie verstehen das Spiel? Als mein Bediensteter müssen Sie es ja verstehen. Also kann es nur etwas anderes sein, was zu dieser Suppenlosigkeit führte! Haben Sie es gar verlernt? Sehen Sie einmal her, wie es geht, mein Herr! Ich gieße, dann salze ich. Fertig! Köstlich! Kosten sie einmal!«

 

Das Männchen mit dem Anzug trinkt die angebotene Tasse leer und übergibt sich ins Spülbecken. »Madame, aber es ist nur Salzwasser!«

 

»Dann machen Sie mir morgen ein Süppchen, das im Magen bleibt. Das den Schleimhäuten schmeichelt. Ein Süppchen gegen die Pilze auf der Zunge, jawohl mein Herr?«

 

»Aber Madame, hier im Steinbruch hat es nichts als Salz! Das Wasser hole ich eigens aus Westernhagen, Sie wissen es ja selbst. Was soll ich nur hineintun, um die Übelkeit zu verhindern?«

 

»Hierfür benötigt man ein solches Gerät«, erklärt die alte Dame und öffnet ihren Küchenschrank. »Es ist ein Vergrößerungsglas. Man hält es an die Steine und findet Flechten und Moose. Mikroskopisch und doch grün. Voller Leben und Organismen. Man kann nur leben von anderem Leben. Das müsste Ihnen bekannt sein.«

 

»Und diese Flechten, wo kommen sie her? Es ist trocken, so furchtbar öd und trocken hier. Kein Wölkchen und kein Tropfen seit Jahren. Immer nur diese Steine, so weit mich meine alten Beine tragen, diese Ödnis! Wir werden hier zugrunde gehen.«

 

»Die Flechten sind von Gott für den Magen gegeben. Nach alter Rezeptur daraus ein herzhaftes Süppchen, ja ein ganz wohltuender Sud.«

 

»Ich werde genau hinsehen, gnä‘ Frau. Werde auf die Knie gehen und nimmer den Blick vom Boden nehmen, ehe ich alles Trockene habe, was man für eine Suppe braucht. Es soll nicht mein letzter Arbeitstag gewesen sein in diesem Hause, in diesem ehrwürdigen Hause. So wahr ich hier stehe, Madame!«

 

»Mein Herr, ich habe Hunger!«

 

»Es tut mir schrecklich leid, Madame.«

 

»Wir wollen einen Ausflug tun. Mein Herr, sagen Sie Stall-Johann Bescheid, wir suchen den Hang nach Flechten ab.«

 

Das Männchen eilt aus der Küche in den Stall. Johann sitzt in der alten Vieh Remise und zerschlägt Steine für den Gehweg.

 

»Stall-Johann, wir wollen Flechtensammeln gehen!«

 

»Wir?«

 

»Ja, auch die Madame, man stelle es sich einmal vor!«

 

Johann bekommt glasige Augen. Beim Verlassen der Remise streichelt er über die leeren Stallgatter und rückt sich den schönen Hut zurecht. 

 

»Sehr gut, ich sehe, Ihr seid vorbereitet für den Hang«, sagt die Dame und setzt sich die Strickmütze auf. »Einen kostbaren Mantel haben Sie da, Rosshaar ist sehr, sehr selten geworden.«

 

»Wagen wir uns tatsächlich zum Hang? Aber Frau Madame!« Johann hält sich die Hand vor den offenen Mund.

 

»Selbstverständlich! Mensch, Stall-Johann! Immer nur Mut, kamen wir anno Tobak doch über ebenjenen Hang in dieses Tal.«

 

»Damals graste das Vieh noch auf der Weide«, sinniert Johann. »Da hatten die Füße noch Halt …«

 

»Wir werden lernen, mit den Steinen umzugehen. Kommen Sie, meine Herren, ich zeige Ihnen Moose und Flechten am Hang!«

 

Die Dame führt die zwei Männer über den Schotterweg aus dem Hof hinaus. Jeder Schritt hinterlässt eine Wolke aus Staub. Über den drei Köpfen steht senkrecht die Sonne, dabei ist der Hang seit Jahren vereist.

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