© Fotoarchiv Helena Melikov

Diese Performance ist längst keine Premiere mehr

von Chris Born

In den einzelnen Strahlen kann ich den Staub auf den Wellen meines Atems im schwachen Licht tanzen sehen. Fast wirkt es, als würde jeder Einzelne Partikel aus der Schwärze auf die Bühne treten und die Choreografie fortsetzen, die das Ensemble schon seit Jahren probt. Jede Bewegung, fließend und perfekt, bis jedes Staubkorn ausgestanzt wieder in der Dunkelheit verschwindet. 

 

Irgendwie besser als fernsehen, denke ich. Nicht so vorhersehbar und stumpf. Bei jedem Ausatmen führen die kleinen Hauptdarsteller andere Tänze auf. Die Dramaturgie immer opulent und kurzweilig. Ganz im Gegenteil zu der Jogginghose die ich nun schon seit geschlagenen vier Tagen trage und die langsam die graue Farbe der ewig besetzten Couch anzunehmen scheint. Vorhersehbar und stumpf, wie das traurige Schauspiel, welches ich jeden Tag auf ein Neues beginne.

 

Die Kraft sich aufzurichten bringe ich in der Lethargie nur noch selten auf. Die Vorhänge – bis auf einen Spalt – zugezogen, die Luft dick und erfüllt von Gerüchen, die ich selbst nicht mehr wahrnehme. Sonst aber auch niemand. Wer auch?

 

Also liege ich rum und betrachte das Schauspiel. Nur deinen Platz lass ich immer frei – niemand passt dort hin. Ausser vielleicht die Katze, die in freudiger Erwartung immer noch zur selben Zeit die Haustür beobachtet. Später ist sie immer enttäuscht, oder müde vom Warten. Dass das Warten längst vorbei ist, kann ich ihr ebenso wenig verständlich machen, wie mir selbst. Vielleicht ginge es einfacher, wenn ich statt ihrer die Tür beobachtete? Wenn jemand käme würde ich sicher auch die Jogginghose gegen etwas Vorzeigbareres tauschen. Oder ich würde sie einfach waschen, ja … waschen wäre gut. Das würde dir sicher auch gefallen. Sauberkeit und Ordnung. 

 

Oh, Sekunde. Die Sonne sinkt und die nächste Vorstellung beginnt, der nächste Akt wird vom Ende des Tages durch die Fenster geworfen, in Strahlen auf den winzigen Bühnen verteilt. Es geht los. 

 

Du bist auch dabei, oder? Dein Tanz ist der Schönste von Allen. Ruhig und aufgeregt. Asche verstreut im Wind. Verweht in so viele Richtungen. Wie lange es wohl dauern wird, bis deine Teile auch hier ankommen, sich durch den dünnen Spalt schieben und mittanzen? Sicherlich nicht besonders lang, du bist sicher schon da. Du bist bestimmt der größte Partikel, der sich nach vorne kämpft und ein Solo erzwingt. Hauptdarsteller und Regisseur zugleich. 

 

Das würde zu dir passen. Früher hast du auch immer den Takt vorgegeben, durchstrukturiert, deine und meine Tage aufgefädelt, dafür gesorgt, dass der Saum unseres Lebens nicht reißt.

 

Vielleicht gehe ich auch deswegen so aus dem Leim? Alles scheint sich aufzulösen und du bist nicht da, um das Muster auszulegen nachdem ich nur zu funktionieren habe. Kann hier mal jemand die Batterien wechseln? Denn auf wundersame Art funktioniert das Leben nicht wie die Fernbedienung. Wobei … vielleicht doch? Nur mein Druck ist einfach nicht stark genug um den Sender zu wechseln und du bist eben viel zu klein und zerteilt und nicht mehr in der Lage meine Tasten so fest zu drücken, wie die Not es nun erfordert.

 

Den Blumenschmuck habe ich mitgenommen, wenn mir sonst schon nichts bleibt. Ausserdem ist in meiner aktuellen Lage Verschwendung das Letzte was ich in Erwägung ziehe. Du hast ja auch nichts verschwendet, auch nicht dein Leben – du lässt halt nur gerne etwas übrig. Ich weiß, ich strafe mich selbst Lügen, denn ich verschwende so viel wertvolle Zeit – für mich ist die Vorstellung noch nicht vorbei.

 

Warum sollen die schönen Blumen auch nur ein einzelnes Mal ihre Schönheit zeigen und dann verblühen? Sie hier zu haben, bei mir, konserviert für lange Zeit, ist soviel eher ihrer Schönheit würdig. Auch auf ihnen sehe ich Staub, eine dicke Schicht aus den erschöpften morgendlichen Tänzern. In Pirouetten aufgescheucht von meinen seltenen müden Schritten. Im Grunde waren sie ja Geschenke an dich, die Blumen, nur eben die Letzten. Alles was Dein ist, ist auch Mein. 

 

Der letzte Akt versinkt gemeinsam mit der Sonne, hinter dem Vorhang der Nacht. Habe ich mich heute überhaupt bewegt, oder nur ohne Opernglas beobachtet? Erinnern kann ich mich nicht genau. Wie auch? Die Gleichheit der Tage lässt die Zeit hinter mir verschwimmen. Ist es überhaupt Verschwendung, wenn ich den Wert der Zeit nicht fassen kann, selbst wenn die davor mich danach alles kosten mag? Egal, weiter. Ich warte. Die Dekoration steht. Die Garderobe sitzt. Das Stück beginnt von vorn.

 

Die gleißenden Lichter, die das Ende der Vorstellung ausrufen und mich hinaus auf die Straße treiben, kommen nie. Kein Kritiker, der das Geschehene Revue passieren lässt, damit endlich der letzte Vorhang fällt und Platz für Neues schafft.

 

Ich warte vergebens auf einen unbekannten neuen Takt. Ganz gleich, wie oft die Zeit die Tage wiederholt, die Tänzer auf die Bühne schickt und mich mit Mittwochszwirn an den leeren Platz neben mir fesselt. Immer von Vorn, kein Ende, nichts Neues, immer Dernière.

 

Keine Zugabe.

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