© Fotoarchiv Helena Melikov

An den Ufern der Front sind wir Treibgut aus Worten

von Chris Born

Als wärest du hinaus zur See gerudert und einfach verloren gegangen, wo ich dich doch da hinten noch als kleinen Punkt am Horizont sehen kann; zumindest, wenn ich meine Augen so fest zusammenkneifen, dass alles um mich herum verschwimmt – außer dir. Deine Briefe erscheinen mir wie Funksprüche, welche im Sturm deine Stimme zu mir hinauf in den dritten Stock tragen und mich fast vergessen lassen. Mich vergessen lassen, dass die Wärme nicht von deinen starken Armen kommt, sondern nur von der Decke, die ich mir immer fester um den Körper schlinge, damit ich irgendetwas spüren kann, wenn schon nicht deine Nähe.
Wie lange ist es jetzt her? Das letzte Wochenende zusammen. Draußen an der Lütschetalsperre, wo wir in den letzten Jahren so oft waren. Mit den Kindern und allein. So viele einzelne Tage, die mir manchmal näher erscheinen, als mir lieb ist.

 

An Tagen wie diesen wünschte ich mir, dass die Erinnerungen einfach dableiben würden, wo ich auch die ganzen Tatsachen und Ängste verstaue. Ganz hinten, da, wo sich die Schubladen nur mit Gewalt öffnen lassen. Nur sind die Erinnerungen – eine vage Aura deiner Nähe, ein kaum wahrgenommener Hauch deines Rasierwassers, die plötzliche Gänsehaut, wenn ich das Gefühl habe, berührt worden zu sein – stärker als mein Wille zu vergessen.

 

Jede freie Minute, in der ich mich nicht um unsere Kinder kümmere, versuche unser Getriebe am Laufen zu halten, warte ich auf dich. Nie tauchst du am Ende der Straße auf, so wie du mir in den sehnsuchtsvollen Träumen erscheinst. An deiner Statt ist der Postmann die einzige wirkliche Schnittstelle zwischen dir und mir. Er ist die einzige atmende Verbindung zwischen mir – hier im dritten Stock – und dir – in einem fremden Land, unter fremden Menschen und als Spielfigur eines fremden Krieges.

 

»Meine liebste Friedel«,

 

Krieg ist ein Spiel der anderen und wir nur das Benzin für ihre Maschinen. Jeder Einzelne austauschbar und doch unerlässlich für das große Ganze. Doch wen interessiert es schon, ob im Nachgang etwas groß ist oder ganz oder überhaupt irgendetwas, wenn man uns zwischen Schüssen und Rationen auf ewig verbrannt hat. Wenn wir maximal noch ein Schatten unseres Selbst sind. Ein atmendes Skelett der Menschen, die wir einst waren.
Wir haben keine Macht. Kohle und Benzin haben nicht zu denken, nur zu brennen. In mir brennt nur die Angst, angefeuert von der Wut, welche ich nicht hinaus in die Welt rufen kann. Ich muss hart sein und stark und da. Vor allem muss ich da sein. Für die Kinder und für die immerwährende Hoffnung, dich noch ein einziges Mal zu sehen. So schweige ich also nach außen. Auch wenn in meinem Inneren alles schreit. Jede Faser. Jeder Tropfen Blut, den ich nur zu bereitwillig vergießen würde, um das Leid endlich zu beenden. Brüllend und rasend verknoten sich Gefühle zu dicken unverdaulichen Ballen, welche mir zwischen Hals und Magen schwer in der Mitte liegen.
Nur auf dem Papier manifestiert sich jeder schwache Moment, welchen ich mir sonst nicht gönne. Ich lasse jede Vorsicht ziehen. Gedichte von Hoffnung, aus Mut und Kritik, finden ihren Weg in das Notizbuch, welches ich zwischen den Dielen in unserem Schlafzimmer verstecke.

 

Der Mensch, der ist ein Erdenkloss
gefüllt mit roter Tinte

 

Nur England habe ich in meiner Nachlässigkeit nicht versteckt. Die Nadel des Radios zeigte noch immer auf die Übertragungen unserer angeblichen Feinde, als die Männer in ihren schwarzen Mänteln unsere Wohnung betraten. Beweise fanden sie nicht, zumindest in dem Moment hat mich meine Geistesgegenwertigkeit nicht verlassen. Drei Tage und drei Nächte in einem kleinen Raum voller Rauch und meinem eigenen Wimmern. Ein Kanon aus dem Klatschen des Rohrstocks auf meinen Fingern und den ewigen Fragen und Anschuldigungen. Ich bin nicht gebrochen. Ich war stark und ich war hart. Nur nicht da. Mit jedem Schlag herausgerückt, ein Stück weiter an dich heran, ein Stück weiter weg von dem Moment.

 

Am Arsch ein Loch, wie ein Taler groß

und vorne hängt die Flinte

 

Das Klingeln kündigt einen deiner Briefe an. Wie ein Zeichen, welches mich inmitten des Schlafwandels aus dem Lauf des Tages herausreißt. Wie eine Sirene in der Nacht fährt mir das Geräusch der Klingel in die Knochen. Mein Körper vibriert im Takt der Schritte, die ich bis zur Tür zurücklege. Der Postmann ist mein persönlicher Heiliger. Moses, der mir deine 10 Gebote bringt. Einen Teil von dir, auf Papier gebannt und gefaltet in das kleine schmutzige Kuvert gesteckt, welches ich in meiner zittrigen Hand halte und jede Sekunde genieße, auskoste, bis ins Mark aufnehme. Wissend, dass du diesen Brief gehalten hast. Hast du ihn am Herzen getragen, direkt an deiner starken Brust, im Inneren deiner Uniform und ihn mit deinem Leben verteidigt?

 

Darunter hängt der Pulversack
gefüllt mit zwei Patronen

 

»Meine liebste Friedel, wie geht es den Kindern?«, begrüßt du mich immer auf dieselbe vertraute Art. Du sprichst nicht von den Schrecken, sondern von der Schönheit, welche du in all dem Unheil und den kleinen Dingen siehst. Landschaften. Kinder, welche dich an unsere erinnern. Seen und Sonnenschein, in ihrem Dasein so ruhig und wertvoll, so standhaft inmitten des Krieges. Wie du. Wie ich. Wie wir.

 

Hinten ist der Kriegscharrplatz
da donnern die Kanonen

 

Dies ist das Ende. Von uns, von dir, von mir. Das Spiel der anderen ist ausgespielt. Ohne Gewinner haben die Fronten die Waffen niedergelegt und Sieger erkoren, die es in Wahrheit nicht gibt – nur Verlierer.
Die Männer kehren zurück von der Front, sagen sie. Die anderen Frauen erhalten zurück, was ihnen genommen wurde. Bauen ihre Familien wieder zusammen und nicht nur die Trümmer ihrer Häuser. Ich staple Tag um Tag meine Hoffnung höher, bis mich der Turm erschlägt. Du kommst nicht zurück. Jetzt sind die Frauen still.
Verschwunden soll er sein, flüstern sie nun. Verschwunden sollst du sein, ist alles, was ich habe. Nicht mal zu Grabe tragen kann ich dich. Nur meine Hoffnung liegt nun unter noch mehr scharfkantigen Trümmern begraben, als ich zu tragen, imstande wäre. Nur meine Liebe lässt nicht los, hält mir das Kinn stolz hoch, denn wenn sie loslässt, ziehen mich die dunklen Hände in die Tiefe. Ich darf mir den Abgrund nicht gönnen, mich nicht der Freiheit des Falls hingeben und meine Waffen niederlegen. Ich muss kämpfen. Das Leben geht weiter, sagen sie. Nein, sage ich. Es geht nicht weiter. Das Leben ist vorbei, ausgelöscht, verschwunden. Wie sollte genau das Leben weitergehen, wenn du doch nicht dabei bist? Nicht mehr ruderst, kämpfst und uns stützt. Wo jetzt nur ich allein die Wände vor dem Einsturz bewahre? Das Leben geht nicht weiter. Ein neues beginnt, auch wenn mir die Füße den Dienst versagen.

 

Dies ist das Ende. Von uns, von dir, der Unbeschwertheit. Der Sturm hat dich geholt, verschluckt und gibt dich nicht mehr her. Jetzt kann ich dich nicht mehr am Horizont sehen. Der kleine Punkt ist mit dir verschwunden, über die Kante hinweg, wo ich dich nicht mal mehr spüren kann. Jetzt verwirft der Wind die Bilder von dir im aufziehenden Sturm.

 

Es klingelt. Ich erinnere mich kaum noch an das Gefühl zu hoffen. Du bist doch fort. Wie kann mein Körper nach all den Monaten noch darauf konditioniert, seine Hoffnung und Angst auszuschütten, sobald sich ein Besucher ankündigt? Mit dem immer gleichen Kribbeln auf meiner Haut öffne ich die Tür und erwartet nichts. Nichts außer schlechten Nachrichten. Heute steht dort der Postmann. Nicht mehr der Heiland, nicht mehr Hermes, der Bote der Götter. Nur der gute Mann vom Postamt. Wie jeden Tag – seit dem letzten Tag – überreicht er mir Briefe. Briefe, welche nur noch lustlos zu mir sprechen, abverlangen und fordern.

 

Doch plötzlich bist dort du.
Deine feine Handschrift auf dem Rücken eines Briefes, welcher dich selbst überdauert hat und mich anstatt deiner auf den verschlungenen und langsamen Wegen des Krieges erreicht.
In meinen Händen halte ich dich fest, solange ich kann, bis der Mut reicht, um deine letzten Zeilen zu öffnen und die Tränen das Lesen zulassen. Die Angst, dein Geist könnte mir zwischen den Fingern entfliehen, lässt mir kaum genug Kraft den Umschlag zu öffnen.

 

»Meine liebste Friedel, wie geht es den Kindern?«

Du bist doch fort, sage ich. Bis ausgezogen uns das Fürchten zu lehren; die beißenden Hunde immer hinter dir. Ich blieb zurück an den Ketten und konnte nur hoffen, nur weiter glauben. Du bist doch fort. Nun spüren meine Finger deinen Zeilen nach. Reihe für Reihe fahre ich mit Auge und Finger, immer wieder von vorn über deine letzten Worte. Lese mit meiner Haut, als wäre ich unter Tränen erblindet. Dies ist kein Abschiedsbrief, keine Erklärung, dies ist ein Gruß, ein Auf bald. Hier und jetzt kann ich immer wieder zurückkehren; zurück in dieses alte schöne Leben, zurück zu uns.

 

Ein letztes Mal spüre ich den Windhauch des Sees auf meiner Haut, deine Stimme dringt aus der Ferne zu mir herauf. Das Funkgerät knistert. Riecht das vergilbte Papier nach deinem Rasierwasser? Ich inhaliere jeden deiner Partikel. Es sind die Letzten, das weiß ich genauso, wie ich mir sicher bin, dass dies der letzte Funkspruch sein wird. Wieder erinnert sich meine Haut an deine Berührung, Gefühl gewordene Szenen aus Zeiten, in denen noch keine Schüsse fielen, keine Panzer fuhren und wir noch an wunder glaubten.
Mit den letzten Worten entschwindest du dahin. Wo ich dich doch längst hatte ziehen lassen. Mit jedem Satz vor meinen Augen verblasst dein Antlitz eine Nuance mehr.
Ich beginne von vorne. Wieder scheint deine Hand meine Schulter zu berühren, deine Präsenz fühlbar. Niemals wieder möchte ich etwas anderes fühlen als diese Sekunde der Rückkehr. Leg an meinen Ufern an, erneut, immer wieder, in endlosen Kreisen, verbrauchten Schleifen – niemals lasse ich uns gehen.

 

Erneut.

 

»Auf bald, meine liebste Friedel. In Liebe, Walter.«

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