© Fotoarchiv Helena Melikov

Goldene Zeit

von Doreen Kunze

Wie sehr du alles vermisst, sagst du nie. Auch nicht, dass du denkst, früher war es besser. Du seufzt oft. Immer öfter mischt sich ein Husten dazu. So stark, dass ich mir Sorgen mache. Du trinkst einen großen Schluck Wasser, verschluckst dich dabei. Die Arbeit sei schuld, sagst du. Hat die Lunge kaputt gemacht. Ich wisse davon ja nichts. Und das stimmt. Denn ich muss meine Tage nicht in der alten Werkstatt fristen, die Autoreifen aufarbeitet. Wer aufgearbeitete Autoreifen braucht, das frage ich mich. Dich aber nie. Aber auch ich friste meine Tage. Meine Arbeit macht nicht die Lunge kaputt. Ich muss davon nicht laut aufhusten. Aber mein Kopf … mein Herz … die wissen nicht mehr weiter. Die würde ich mir am liebsten aus dem Leib husten.

 

Du führest mich über den alten Hof. Zeigst mir alles ganz genau. Der da, der Traktor, der sei richtig was Wert. Und dort das Feld, das könne man auch weiterhin verpachten. Oder eben verkaufen. Oder ein Haus darauf bauen. Irgendwann, wenn ich mal Kinder hätte. Ganz wie ich wolle. Sagst du. Und führst deine Tour weiter. Das machst du jedes Mal, wenn ich dich besuche. Immer wieder beginnen deine Sätze heute mit “Wenn ich mal nicht mehr da bin …“ und ich weiß dazu nichts zu sagen. Ich weiß ja, dass du recht hast. Damit, dass du nicht mehr lange leben wirst. Trotzdem winke ich jedes Mal ab und sage dir, dass du vielleicht etwas voreilig bist. Ich denke, dass ich dir das schuldig bin. Oder will dir Hoffnung geben. Hoffnung, die schon lange nicht mehr da ist. Weil die Ärzte (Wer sind die überhaupt? Wie viele sind das? Sind das Fachärzte? Warum frage ich dich solche Sachen nie?) nichts mehr machen können. Sagst du.

 

Wenn wir wie jedes Mal unsere kleine Tour über den Bauernhof drehen und du mir sagst, ganz nüchtern und geschäftlich, was nach deinem Tod mit alledem passieren solle, dann höre ich oft nur halb zu. Ich schweife ab. Stelle mir Zeiten vor, in denen hier noch Leben herrschte. Ich kenne diese Zeiten nicht. All das ist reine Fantasie. Hier, bei dir, geht es nur noch um den bevorstehenden Tod.

 

Wir kennen uns nicht. Du weißt nichts von mir. Ich nichts von dir. Uns trennen Generationen. Jahre. Ganze Leben. Selbst deine Sprache ist eine andere. Manchmal kann ich dich kaum verstehen. Das Dorf, die Zeit, die Abgeschiedenheit hat sie geprägt. Währenddessen hat mich die Stadt gelehrt, jeden Dialekt abzulegen. Damit man überall zuhause sein kann. Und nirgends. Tradition und Wurzeln sind alles für dich. Mir haben solche Dinge nie etwas bedeutet.

 

Dann sitze ich wieder einmal Zuhause. Trinke Wein. Denke über dich nach. Über die Zeit, in der man die Milch noch auf dem Hof nebenan gekauft hat. Und die Eier. Und als das Gemüse im Garten wuchs. Über die Zeit, in der man sich kannte. Ob man wollte oder nicht. Mein Nachbar nebenan hat seinen Fernseher wieder einmal viel zu laut aufgedreht. Mir fällt sein Name gerade nicht ein. Ich muss morgen noch mal am Klingelschild nachsehen, sage ich mir. Ich setze mein Weinglas an, trinken einen Schluck und frage mich wie jedes Mal, wenn ich bei dir war, ob ich dich jemals wiedersehen werde.

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Dissoziation

Eines Tages bist du einfach zurückgekehrt und nichts war mehr wie vorher. Als hätte man dir die Augäpfel durch fremde ausgetauscht, siehst du mich mit einem unbekannten Blick an.

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