© Fotoarchiv Helena Melikov

Darunter
Ein Stück für zwei Höhlenarbeiter und einen Höhlenvorarbeiter

von Carl Ensom

»Was liegt darunter?«, fragt der Eine. Diese Frage hatte ihn schon lange beschäftigt.
»Nachsehen wäre doch eine Möglichkeit«, sagt der Andere.
Der Radikalität wegen wischt der Höhlenvorarbeiter diesen Vorschlag mit einer übertriebenen Handbewegung vom nicht vorhandenen Tisch. Er denkt sich diesen Tisch und gibt dem Einen wie dem Anderen zu verstehen, hier ist ein Tisch, von dem er diesen Vorschlag wischt.
Er wiederholt die Geste.
Der Eine schaut ihn fragend an. Der Andere gibt ihm mit einem übertriebenen Augenzwinkern zu verstehen, dass er ihn verstanden habe oder zumindest auf seiner Seite sei.
»Aber was liegt darunter?«, fragt der Eine und verleiht damit seiner eingangs gestellten Frage Nachdruck.
»Unter den Gehwegen«, fügt er hinzu und der Höhlenvorarbeiter entgegnet, »die hier zu nicht allzu später Stunde hochgeklappt werden!« Er lächelt, um sich seiner Schlagfertigkeit wegen selbst zu belohnen.
Der Eine holt aus: »Was liegt unter den Bäumen, die nun, möge man den Nachrichten glauben schenken, häufiger umstürzen als noch vor einigen Jahren. Was liegt unter dem See, dessen Wasser so klar und fischleer ist?«
»Was ich unter dem See verberge?«, schreit der Höhlenvorarbeiter den Einen an. Der Andere zuckt zurück.
»Und weshalb eben genau dort Bäume stehen?«, er redet sich in Rage.
»Erde und noch mehr Erde« wirft der Andere ein, gefolgt von einer Handbewegung, die einerseits beschwichtigend wirken soll, aber auch als Geste verstanden werden konnte, sich doch nun einem anderen Thema zu widmen.
»Je weiter ich grabe, je tiefer ich stoße, desto undurchdringlicher der Fels und das Eisen, und die Diamanten. Alles reißt meine Wunden auf. Alles will verhindern, dass ich zum Kern vordringe.« Der Eine starrt in den Raum, auf die Felswände und das undurchdringliche Gestein. Es ist, als könne er, wenn er den Blick nur intensivierte, durch den offensichtlichen Zweck der Wände und des Bodens schauen, um das Wesen der Dinge zu erfassen.
»Ja bin ich denn hier nur von Intelligenz umgeben?« Der Höhlenvorarbeiter fasst sich an die Stirn und stemmt die andere Hand in die Seite. Aber er ist vorbereitet. Endlich zahlen sich die endlosen Stunden an der Parteiakademie aus. Endlich kann er anwenden, was er bei den Debattierveranstaltungen gelernt hatte und sonst in Vergessenheit zu geraten drohte.
»Du hast sicherlich bemerkt, darunter liegen wir,« er zeigt zunächst auf die Höhlendecke und dann auf die Gruppe der drei Arbeiter. »Wir, nicht was!«
»Wir liegen darunter? Ich finde also Arme, Beine, Knochen der Erinnerung. Ganz zermahlen.«
Der Andere schaut nicht nach. Er fegt nur, fegt den Dreck weg und putzt alles lupenrein. Kleinlaut spricht er vor sich: »Lupenrein, so soll es sein!«
»Wir erinnern uns nicht gern«, beginnt der Höhlenvorarbeiter, als würde er noch überlegen, was es nun zu sagen gilt. »Nein, wir werden nicht gern erinnert«, entgegnete er dem Einen nun lauter. »An die Arme, Beine und Knochen von gestern. Wir haben unsere eigenen, die uns zur Arbeit verhelfen.«
»Wir brauchen die Alten nicht«, beendete der Andere die Aussage des Höhlenvorarbeiters. »Denn fängt man erst einmal an, die Alten zu heben«, der Andere lehnte mit verschränkten Armen auf seinem Besen und starrte in die Unendlichkeit der Höhle.
»Ja?«, fragten der Eine und der Höhlenvorarbeiter unisono.
»Dann fragst du nur, was liegt darunter!«

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