© Fotoarchiv Helena Melikov

Mein Nebel, der bist du

von Carl Ensom

Die Blätter sind gefallen, allesamt. Ich starre beharrlich in die Landschaft, rede ununterbrochen. Es ist, als wären wir allein auf diesem Platz mit dem großen Springbrunnen. Niemand würdigt uns eines Blickes. Niemand bemerkt unsere kühle Schüchternheit. In manchen Momenten weht der Wind den Salat von unseren Tellern. Und ich blicke dich an, so als müsste ich mich erinnern, wer du warst. Du bemerkst, wie ich dich mustere. Du lächelst schüchtern. Und wir brauchen ein wenig, um die Vertrautheit zurückzuerlangen, die wir vor Jahren hatten.
Du bist wie immer zu dünn angezogen. Ich erkenne die zarten Konturen deines Körpers. Ich weiß, wie er sich anfühlt, riecht und bebt. Ich dachte lange Zeit, dieses Gefühl, dich so gut zu kennen, wäre verflogen. Doch es hat nur ein paar Worte zwischen uns gebraucht und das Gefühl war wieder da.

 

Mit dem Schwanken der Sonne entzünden sich hinter dir und hinter mir die kahlen Wände der Paläste. In manchen Lichtern fließen Tränen, in manchen schallt ein Lachen. Diese Momente, die uns immer fehlten, ziehen vorüber. Und dann ertappen wir uns bei dem Gedanken an ein Morgen.

 

So als wären wir an manchen Weihnachtstagen zur Messe gegangen. Hier im Querschiff hätten wir in der üblichen, feierlich erregten Stimmung Kerzen angezündet. Unsere Gespräche wären beiläufig gewesen. Du hättest meinen Arm gehalten, als wäre ich ein alter Freund, während du der Musik lauschst. Man könnte uns vorhalten, dass wir zu dieser Sorte Kirchgänger gehören, die sich nur einmal im Jahr an die Existenz ihres Glaubens erinnern. Du hättest dieses Argument nicht gelten lassen. „Sie glauben doch auch nicht nur, wenn sie zur Messen gehen, oder?“ Wäre ich dir bis dahin nicht verfallen, in jenem Moment wäre es um mich geschehen. Dann hätten wir die Kirche vor allen anderen verlassen, um als erste in die klirrende Nacht zu treten, die Ruhe des Platzes zu spüren, wo wir uns vor und nach so vielen Jahren wiedergetroffen hatten. Arm in Arm hätten wir die Kirche, die in dieser und in all den Nächten aus sich selbst heraus strahlte, hinter uns gelassen. Wir wären in ein leuchtend warmes Zimmer getreten und hätten uns gehabt.

 

Nichts erinnert an diese Nächte. Heute betreten Menschen diese Kirche nur noch, weil sie Rettung erhoffen und den Tod erwarten. Heute beinhaltet sie ein Behelfskrankenhaus und wir sind schutzlos. Heute sitze ich allein im Schatten des Springbrunnens. Der Wind hat nach all der Zeit sämtliche Salatblätter von unseren Tellern geweht. Aus der Erinnerung ist Vergessen geworden, aus der Musterung ein Blick ins Leere. Die Paläste, die sich hinter mir auftürmen, wirken verwaist. In den Taschen meines zerschlissenen Wintermantels finde ich letzte Reste von einem Strandspaziergang. Der Sand rieselt leicht durch meine Finger, während ich über den Platz schlendere. Niemand würdigt mich eines Blickes, niemand bemerkt mich. Niemand blickt zum Himmel, niemand bemerkt, wie die Sonne schwankt und fällt. Ich bleibe kurz stehen und richte meine Augen auf den Horizont. Durch die düsteren Wolken bricht ein letzter Sonnenstrahl und für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich, dich im Augenwickel erblickt zu haben. Mein Herz durchbricht den Schleier und schlägt mir bis zum Hals. Ich drehe den Kopf in deine Richtung, doch du bist fort. Außer unsere Ellenbogen berührte sich nichts.

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