© Fotoarchiv Helena Melikov

68 Jahre Zukunft

von Carina Kaiser

SIE trug ihr liebstes seidenes Halstuch, die weißen Tanzschuhe mit dem kleinen feinen Absatz und ihren karierten Sonntagsmantel, den sie sich über viele Monate zusammengespart hatte. Die Ärmel hatte sie sorgfältig umgeschlagen, sodass der dunkele Stoff vom Innenfutter des Mantels zum Vorschein kam. Heute Morgen ist sie noch früher als sonst aufgestanden, um sich die haselnussbraunen Haare in kleine Locken zu drehen. Vor allem sonntags gab sie sich dafür besonders viel Mühe dabei. Sie schenkte dem milchigen Spiegel im Hausflur ein flüchtiges Lächeln und schloss die Tür mit einem festen Ruck sich, um sich auf den Weg zum Bahnhof zu machen. Zu IHM.

 

ER trug seine schickste Hose und dazu das passende Sakko, das dunkle Hemd bis obenhin zugeknöpft und die Schuhe extra glänzend poliert. Mit der flachen Hand strich er noch einmal feste über die Hosenbeine, um die Stoffknicke vom Sitzen zu kaschieren. Dabei fiel auch sein Blick auf einen Spiegel. Sein Scheitel lag heute besonders gut, dachte er so bei sich. Gerade heute ist ihm das besonders wichtig, denn heute trifft er SIE.

 

Noch ein paar Stunden, dann würden sie endlich zusammen sein. Wie jeden Sonntag.

 

SIE war ein junges Mädchen mit rosigen Wangen aus dem Osten, und ER ein gutaussehender Bäckerlehrling, der im Krieg aus seiner Heimat Schlesien flüchten musste und nun im Westen Deutschlands lebte. Sie lernten sich 1950 beim Tanztee in Solingen kennen.

 

Treffen werden sie sich wie immer in der Mitte, zwischen Ost und West, um ein paar Stunden gemeinsam verbringen zu können. Stunden, in denen sie von ihrer gemeinsamen Zukunft träumten, den Kindern, Enkeln und dem gemeinsamen Geschäft. Noch wissen sie nicht, dass sie in ein paar Jahren zwei gesunde Mädchen auf die Welt bringen würde. Dass sie gemeinsam eine Bäckerei mit den besten Brötchen und dem aufwendigsten Schaufenster der Stadt eröffnen würden und die Zeit wie nichts dahinfliegen würde. Alles, was sie heute wussten: Es ist wahre Liebe.

 

Als sich der Zug aus Thüringen in Bewegung setzte, fühlte SIE sich an all die wundervollen gemeinsamen Möglichkeiten erinnert. Land und Häuser zogen flackernd wie ein Film an ihren Augen vorbei, aber sie dachte nur an ihn. Kurz bevor der Zug zum Stehen kam, fingen ihre Hände vor Aufregung an zu zittern. Gleich durfte sie ihn wieder in die Arme schließen. Und bald für immer.

 

ER ist, wie so oft, schon früher am Bahnsteig gewesen hat auf sie gewartet. Als der Zug einfuhr und sich wenig später ihre Blicke trafen, fiel jede Aufregung von ihnen ab. Heute war ein besonderer Tag. Heute würden sie nicht ins Kino, sondern tanzen gehen. Bei Livemusik wird er sie dann zu einem Tango auffordern. Er wird ihr Lieblingstanz. Danach werden sie am Fluss spazieren gehen, bis der Zug sie irgendwann zurück nach Thüringen bringen würde, bis sie sich in einer Woche wieder hier treffen.

 

Und dann, dann wird sie anfangen, die gemeinsame Zukunft. Er wird in der Backstube stehen, Kuchen und Brötchen backen – sie wird die noch warmen Wecken morgens mit ihren Töchtern vor die Türen der Nachbarn legen und danach hinter dem Tresen der Bäckerei verschwinden, um mit den Kunden zu erzählen und lachen. Dann werden sie sich ein Haus kaufen und zu Ruhe setzen. Er wird mit seinen Enkelkindern Verstecken spielen und ihnen beibringen, wo die Sonne auf- und wo sie untergeht. Sie wird mit ihnen unzählige Runden Mensch ärgere Dich nicht spielen und die Löcher in ihren Lieblingskleidern stopfen. Sie werden ihre Enkelkinder in ihrer Bettmitte schlafen lassen und ihnen vorlesen, bis sie eingeschlafen sind. Sie werden ihnen ihre ganze Liebe und Hingabe schenken, und nichts dafür im Gegenzug erwarten.

 

Aber das ist erst später. Jetzt und heute genießen sie ihre Zeit zu zweit. Die schöne Zukunft wartet früh genug auf sie.

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