© Fotoarchiv Helena Melikov

Mouches volantes

von Ilona Hartmann

 

 

“Ein ungeheuerlicher Fund”, sagte der Bürgermeister.

“Ohne Zweifel”, sagte der Hirnforscher.

“Die Öffentlichkeit darf unter keinen Umständen davon erfahren”, sagte der Bürgermeister.

“Nun ja”, sagte der Journalist.

 

Zu dritt standen sie in der Höhle. Obwohl es warm darin war, zog der Journalist wie um seine Gedanken zu sammeln den Mantel enger um sich und begann, Notizen zu machen. Dem Bürgermeister lag ein feiner Schweißfilm auf der Stirn. Der Hirnforscher schritt mit auf den Boden gehefteten Augen die Fundstelle ab und zog dabei mit jeder Runde weitere Kreise.

 

“Diese Erinnerung hat sonst niemand im Dorf, da bin ich sicher”, sagte er schließlich mehr zu sich selbst als zu den anderen. “Wenn es jemanden gibt, mit dessen Hilfe wir die mysteriösen Vorfälle des Sommers rekonstruieren können, ist er es.” Der Bürgermeister nickte verständig, während der Journalist weiter mit schneller Hand notierte.

 

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Das Feuer brach in der Nacht los. Binnen weniger Minuten standen die geduckten, strohgedeckten Häuser in lodernden Flammen, sie schlugen aus den Fenstern, ließen das Glas bersten. Erstickte Schreie drangen durch das Krachen der fallenden Holzbalken, ein Haus nach dem anderen fing wie in einer gespenstischen Choreographie an zu brennen. Ehe die übrigen Dorfbewohner wach geworden waren, einer den Alarm geschlagen und genügend Helfer herbeigelaufen waren, vergingen lange, unendlich lange Minuten. In den verkohlten Trümmern fand man die Bewohner, 16 Leichen, sieben davon Kinder. Der beißende Brandgeruch wich tagelang nicht aus den Straßen und noch viel länger nicht aus der Erinnerung der Menschen. Niemand wusste, woher in dieser kühlen Spätsommernacht Ende August, die Ernte war schon eingeholt, der Funke gekommen sein sollte, der dieses Inferno ausgelöst hatte. Die gerufenen Polizisten aus der Nachbarstadt suchten über Wochen immer wieder nach Zeichen, die Hinweise auf Brandstiftung oder einen Unfall gaben, finden würden sie keine. Immer wieder kamen Männer, Frauen und auch Kinder zu ihnen und gaben an, in jener Nacht etwas bemerkt oder beobachtet zu haben – einen Schatten gesehen, einen ungewöhnlichen Geruch gerochen oder auch nur ein ganz eindeutiges seltsames Gefühl gehabt zu haben, eine dunkle Vorahnung.

 

Der Hirnforscher hatte in unzählige Gehirne steigen und sich die Erinnerungen ansehen müssen, hatte allerhand Pikantes dort vorgefunden, suchte einen konkreten Hinweis, eine hilfreiche Sequenz – vergeblich. Dunkle Vorahnungen hinterlassen keine Fingerabdrücke. Und nur ein seltsames Gefühl ist keine belastbare Erinnerung. Die Polizisten fuhren schließlich mit hängenden Gesichtern wieder in die Stadt, mit der Bitte, nun erst einmal die Untersuchungsergebnisse abzuwarten. Der Hirnforscher vertiefte sich wieder in seine Studien und behandelte dann und wann einen Tinnitus oder Augenzucken.

 

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Der Junge wusste genau, welche Holzdielen im Flur verräterisch knarrten. Flink und leise schlich er zur Tür, drückte behutsam die kalte, schwere Klinke hinunter und verschwand mit schnellen Schritten im Wald nahe des Hauses. Er konnte oft nicht schlafen und auch heute war einer dieser Abende, an dem die Bilder und Farben des Tages noch lange in seinem Kopf hinter seinen Augen tanzten. Wenn man seine Augen im Dunkeln ganz fest zudrückte, konnte man übrigens ganz viele Farben sehen, leuchtendes Orange, Feuerrot, flirrende Lichtpunkte in Weiß und Schwarz, die wie Tierchen aussahen. Wie sollte einer da schlafen? Früher hatte man ihn deswegen erst zum Arzt getragen und später zum Hirnforscher, einem sanften, gedankenverlorenen Mann, den er gleich mochte. Ob alles mit ihm in Ordnung sei, und was man gegen das Tanzen im Kopf machen könne, wollten seine Eltern wissen. Für die Untersuchung war der Hirnforscher dann durch das rechte Ohr des Jungen in seinen Kopf gestiegen und hatte sich dort umgesehen. Aha, linke Gehirnhälfte, rechte Gehirnhälfte, Hypothalamus, Amygdala, alles da, aha, aha. Ein bisschen unaufgeräumt im Bereich der Erinnerungsaufbewahrung und überhaupt ziemlich viele undatierte Bilderschnipsel, die in diesem jungen Kopf schon gesammelt wurden, aber alles in allem: nichts Beunruhigendes festzustellen. Die Tierchen, die der Junge sah, nannte der Hirnforscher “mouches volantes”, fliegende Fliegen. Trübungen des Glaskörpers im Auge, völlig harmlos. Das sagte der Hirnforscher danach auch den Eltern und empfahl, den Jungen zur Beruhigung mindestens zwei bis vier Stunden vor der Schlafenszeit nichts Anregendes oder allzu Bewegtes mehr sehen, hören, lesen oder spielen zu lassen.

 

So kam es, dass der Junge bei Einbruch der Dunkelheit in sein Zimmer gehen und nur noch alte, längst bekannte Kinderbücher lesen durfte. Bald schon wurde er erst gelangweilt, dann missmutig, schließlich verfiel er in einen verdrossenen Dämmerschlaf, aus dem er aber später, wacher denn je, wieder aufschrecke. Das Kitzeln im Kopf wanderte langsam durch den Nacken in die Arme, den Bauch, die Beine und schließlich die Füße. An ein Stillliegen war gar nicht mehr zu denken. Es war dann stets längst mitten in der Nacht, das Haus still, die Geschwister schlafend, ebenso die Eltern, die Nachbarn, das Dorf und das nächste.

 

  •  

 

Dann war der Moment, da er endlich das Haus heimlich verlassen konnte. Am Waldrand, nicht weit vom Haus, gab es ein kleines Loch in der Böschung, wo sonst Katzen, Hasen oder Rehe hindurchschlüpfen konnten. Dort glitt er dann im Schlafanzug hindurch und spazierte durch den nächtlichen Wald. Die Tannennadeln und kleinen Steine pieksten oder kitzelten manchmal an den Fußsohlen, aber er kannte jeden Stein und jeden Winkel der ausgetretenen Wege des Wilds. So streifte er lange durch die Dunkelheit, bis seine Beine schwer und sein Kopf wieder klarer wurde. Dann setzte er sich auf seinen Lieblingsstein, einen kleinen Findling am Waldrand, von dem aus man das ganze Dorf überblicken konnte. Im Sommer war der Stein manchmal sogar noch warm von der Sonne des Tages, fast fühlte es sich an, als hätte der Stein einen eigenen Herzschlag, der unter der moosbewachsenen Oberfläche sachte an die Handflächen pulsierte. Der Junge beobachtete das Dorf und den Himmel und die Sterne und alles, was dazwischen lag. Auch in der Nacht des Brandes saß er dort.

 

  •  

 

“Er muss an diesem Abend irgendwie entkommen sein”, sagte der Bürgermeister leise, der seinen Blick nicht von der Erinnerung im Kopf des Jungen nehmen konnte. “Das hier könnte ein wichtiger Hinweis für die mysteriösen Brände sein. Hinweise darauf geben, ob es Brandstifter waren.”

“Gut möglich, dass bei den Löscharbeiten wichtige Spuren vernichtet wurden”, sagte der Journalist. “Umso wertvoller ist der Junge.”

“Wir müssen ihn schützen. Er ist der Einzige, der noch weiß, was in dieser Nacht geschah. Wer auch immer den Brand gelegt hat, ist sicherlich darauf aus, jeden Zeugen zum Schweigen zu bringen”, sagte der Hirnforscher langsam. Der Bürgermeister und der Journalist nickten stumm. Die drei wandten sich langsam zum Gehen.

 

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Kurz vor der Rückkehr ins Haus wusch der Junge sich im Weiher nahe seines Elternhauses die schmutzigen Füße, sodass niemand Verdacht schöpfen würde. Als sich die Oberfläche des Wassers wieder beruhigt hatte, nutzte er dessen Spiegelung, um sein Gesicht und sein Haar auf Reste von Staub oder kleine Zweige zu überprüfen. Dieses Mal fand er nichts außer einem vertrockneten Blatt, das sich unbemerkt ganz oben auf seinem Kopf verfangen hatte. Er zerbröselte es langsam zwischen den Fingerspitzen und dachte darüber nach, wie er das Gesehene am besten verstecken konnte. Niemand durfte erfahren, was er beobachtet hatte. Sobald er zwischen die Fronten geriet, wurde er selbst ins Visier genommen. Er hatte es bei seinem Bruder beobachten können. Nur noch eine wulstige Narbe im Nacken verriet, was es ihn gekostet hatte.

 

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Er kannte die Vier, die am Waldrand große Fässer in ein Auto geladen und sich mit gepressten Stimmen Befehle zugezischt hatten. Einer ging in die Klasse seines Bruders, ein anderer trug samstags Zeitungen aus, der dritte war der hagere Sohn des Apothekers und der vierte war gar kein Junge: Nike war das schnellste Mädchen im Dorf und immer schon mit den Größeren befreundet gewesen. Dennoch musste der Junge in der Dunkelheit die Augen zusammenkneifen, um wirklich sicherzugehen, dass sie es war. Sobald er die vier Gestalten identifiziert hatte, wusste er, was sie vorhatten.

 

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Der Streit unter den Jugendlichen dauerte nun schon viele Sommer an und keinem war es gelungen, die verfeindeten Parteien zu einer Versöhnung zu bewegen. Lediglich einige Wochen der Waffenruhe und des gegenseitigen Ignorierens hatte es gegeben, nur um den Konflikt dann mit noch größerer Härte und Gewalt auflodern zu lassen, als hätten die Beteiligten Anlauf genommen, um sich mit neuer Wut zu bekriegen. Der Junge verstand nicht genau, worum es ging, aber er verstand sehr wohl, dass es ein alter Schmerz war, der da von der einen in die andere Generation weitergegeben worden war.

 

Seine Eltern sprachen manchmal, die Gesichter unbewegt und die Stimmen rau, in dunklen Andeutungen von dem Moment, als alte Erinnerungen ans Licht gekommen waren und einst eng befreundete Familien zu Erzfeinden hatten werden lassen. Man stieß darauf bei einer Routineuntersuchung, die Tochter des Schlossers hatte plötzlich immer öfter über Kopf- und Ohrenschmerzen geklagt. Ein Blick ins Innere offenbarte Erinnerungen, die den Vorgänger des Hirnforschers erst seine ärztliche Schweigepflicht brechen und dann das Dorf verlassen ließen.

 

Die Geschichte zogen im Dorf weite Kreise und immer mehr Erinnerungen wurden plötzlich wieder in den Köpfen der Menschen lebendig, die hässliche Details hervorbrachten oder unsagbare Vermutungen bestätigten. Alle Familien, die über die Jahre neu hinzuzogen, spürten sofort den unsichtbaren Graben, der sich seitdem zwischen den Dorfbewohnern aufgetan hatte. Einige verließen deshalb die Gegend nach kurzer Zeit wieder, andere scherten sich nicht darum. So gut es ging jedenfalls; gespannte Drahtseile, brennende Autos und tote Katzen ließen sich nur übersehen, wer die Lokalzeitung nicht las und auch sonst mit niemandem sprach.

 

Die Familie des Jungen hatte sich, so gut es eben ging, aus dem Konflikt herausgehalten, nahm nicht teil am Gerede, kommentierte Gerüchte nur mit neutraler Kenntnisnahme und driftete so nach und nach ins soziale Randgebiet. Wer nicht früher oder später Position bezog, sich auf die Seite des Apothekers oder die seines Rivalen, dem Schlosser, schlug, rutschte ab in die zweite Reihe. Unter den Jugendlichen war der Druck noch größer, nicht dazuzugehören bedeutete nicht nur bohrende Einsamkeit, sondern auch das schwer in Worte zu fassende Gefühl, ohne moralischen Kompass zu sein, die richtige Seite nicht zu erkennen.

 

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An der Art und Weise, wie nervös die Vier das Auto beluden, an ihren bis zum Zerreißen angespannten Bewegungen, erkannte der Junge, dass sie sich nicht sicher waren. Sie hatten sich übernommen und es war zu spät, um das Vorhaben zu stoppen. Niemand wollte zugeben, dass sie dabei waren, eine Grenze zu überschreiten und längst die Kontrolle über die Situation verloren hatten. Wenn nun ein Ast von einem Baum fiele oder Wild aus dem Dickicht brechen würde, sie würden aus ihrer Trance aufwachen. Sich zitternd in die Arme fallen und abfahren. Jemand müsste einen Stein werfen. Er, der Junge, müsste einen Stein werfen. Er dachte an die wulstige Narbe des Bruders. Das blutgetränkte T-Shirt, am Tag, als sie es taten. Das Entsetzen in seinem Gesicht. Sein Blick. Der Junge kroch aus dem Schatten des Findlings, wo er sich versteckt hatte, in Richtung Waldweg. Was immer passieren würde, er allein war zu klein, um es aufzuhalten.

 

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Die Männer verließen die Stirnhöhle des Jungen durch das rechte Nasenloch, einer nach dem anderen seilten sie sich ab, rutschten seitlich über die glatten Wangen zum Ohr und sprangen von dort in einem gewaltigen Satz auf den Boden. Der Bürgermeister hielt dabei mit einer Hand seinen Hut fest, verlor ihn aber beim Aufsetzen. Der leichtfüßige Journalist kletterte dagegen gewandt wie eine Katze und beeindruckte damit sogar den hinter ihm absteigenden Hirnforscher, der das ganze Prozedere gewohnt war, aber selten Begleitung dabei hatte.

 

“Sorgen Sie dafür, dass der Junge Betreuung erhält”, sagte der Bürgermeister.

“Selbstverständlich”, sagte der Hirnforscher.

“Bis wir mehr wissen und die Zusammenhänge endgültig geklärt sind, müssen wir absolutes Stillschweigen bewahren”, sagte der Bürgermeister.

“Stillschweigen bewahren”, wiederholte der Journalist, als er die Worte notierte.

 

Ehe jeder wieder an seine Arbeit zurückkehrte, hielten die drei Männer für einen kurzen Moment inne. In ihren Gesichtern war berufliches Interesse einer ungekannten Weichheit gewichten. Sie verband neben ihrer Freundschaft das gemeinsame, noch geheime Wissen darum, dass im Dorf bald noch weniger so sein würde, wie bisher. Sie hatten die Erinnerung gefunden, die dafür sorgen würde, dass das Leben im Dorf ein zweites Mal erschüttert wurde, noch während die abgebrannten Häuser wie die Lücken verfaulte Zähne in der Nachbarschaft klafften.

 

“Wir – brauchen jetzt viel Kraft”, sagte der Bürgermeister und bemühte sich, seine Stimme fest klingen zu lassen.

“Die Wahrheit ist oft schwerer zu ertragen als jede dunkle Fantasie”, sagte der Journalist und die beiden anderen spürten mit jeder Faser ihrer Körper, dass er Recht hatte.

Der Hirnforscher sagte nichts. Er lehnte sich mit dem Rücken an die rosige Wange des ruhig atmenden Jungen und empfand seine weiche Haut kurz als tröstend.

 

Als er wieder allein in seinem Büro war und den Bericht fertigstellte, spürte er ein Zögern. Jemand könnte diesen Bericht über die Erinnerung im Kopf des Jungen verschwinden lassen. Er könnte ihn verschwinden lassen. Zurück bliebe eine ungeklärte Katastrophe, die Trauer um die Opfer und ein mit den Jahren immer blasser werdendes Bild davon, wie das Leben im Dorf einst aufgewühlt worden war. Nach und nach würde sich das Leben vielleicht normalisieren, geheilt durch den Schock einer aus dem Ruder gelaufenen Racheaktion. Auf der anderen Seite stünde die vertuschte Wahrheit und die Erinnerung des Jungen. Der Hirnforscher fuhr sich mit schwerer Hand durch die ergrauten Haare. Er schloss für einen Moment die Augen und hoffte auf mouches volantes, denen er nachträumen konnte. Dann beendete er den letzten Satz seines Berichts, steckte die Blätter in einen Umschlag und zog seinen Mantel an.

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