© Jochen Raiß

Über die Faszination des Sammelns

Im Gespräch mit Jochen Raiß

Jochen, wie fing alles an? 

 

Ich war recht jung, ungefähr 19, 20, als ich mit dem Sammeln anfing. Zu meiner Studentenzeit in Frankfurt am Main habe ich auf den Flohmärkten nach Vintage Kleidung oder Bücherн gesucht. Damals hatte ich mir alte Fotografien als Lesezeichen gekauft und genutzt. Und irgendwann mal fiel mir dieses Foto mit einer Frau auf einem Baum in die Hände. Das Bild hat mich dann eine lange Zeit in meinen Büchern begleitet. Und jedes Mal, wenn ich das Buch aufschlug, hat mich dieses Bild angeregt, darüber nachzudenken. Die Bücher wanderten ins Regal und neue Lesezeichen folgten. Irgendwann habe ich gemerkt, dass sie mehr als nur Lesezeichen waren. Sie waren kleine Geschichten – eigenständige Bücher. Ab diesem Zeitpunkt habe ich meine Lesezeichen als eigenständige Fotografien betrachtet und angefangen sie zu sammeln. 

 

Zudem hatte ich ein sehr inniges Verhältnis zu meiner Großmutter, sie hat mir viel aus der Vergangenheit erzählt und ich habe ihr gebannt zugehört. Ihre Geschichten habe ich alle in Schwarzweiß gesehen – die ganzen Geschichten. Als sie dann verstarb, habe ich kurz darauf mit dem Sammeln angefangen. Seit ein paar Jahren ist mir bewusst geworden, dass ich ihr Fehlen und das Vermissen mit den Fotos kompensiere. Es ist ein rückblickender Gedanke, der mir sehr gefällt. Sie hat mir versucht zu sagen, dass das Leben sehr viel mehr bereithält, als nur schlechte Zeiten, nämlich die kleinen und schönen Momente im Leben, die ich versuche auf den Bildern zu entdecken. 

Ich liebe es im Jetzt zu leben, aber auch abzuschweifen.

© Foto Lilli Biskamp
© Jochen Raiß

Wie und wo findest du die Fotos?  

 

Vor ein paar Jahren sagte eine Freundin zu mir – die Bilder finden dich und nicht du sie. Dieser Gedanke gefällt mir sehr gut und mittlerweile glaube ich auch daran. Allein der Umstand, dass ich zehnmal hintereinander auf Berliner Flohmärkten war und ich jedes Mal Fotografien mit Frauen auf Bäumen fand. Das kann kein Zufall sein. 

 

Ansonsten habe ich mein samstägliches Ritual, an dem ich erst in einem portugiesischen Café in Hamburg gemütlich frühstücke, dann schlendere ich über den Flohmarkt und begebe mich neugierig auf die Suche, zum Beispiel, auf den Flohmarkt am Schlachthof in Hamburg. In Berlin allerdings finde ich die meisten Fotos. Dort ist die Auswahl viel größer, da es mehr Flohmärkte gibt und natürlich Händler, die solche Bilder anbieten. Sämtliche Haushaltsauflösungen sind auch eine sehr gute Fundgrube.

 

Wie viele Bilder hast du in deiner Sammlung?

 

Ich glaube, es sind ungefähr 2500. Das ist recht übersichtlich, wenn man bedenkt, dass ich seit fast 30 Jahren sammle. 

Deine Bücher werden unter anderem bei Hantje Cantz verlegt. Erzähl uns von deinem ersten Buch Frauen auf Bäumen.

 

2015 war ich beruflich auf der Buchmesse in Frankfurt und hatte ein PDF auf meinem iPad mit den Bildern Frauen auf Bäumen mitgenommen. Ich war sehr neugierig darauf, wie die Kunstbuchverlage das finden. Schließlich sind es Amateuraufnahmen von unterschiedlichen Fotografen und diverser Qualität. Dann habe ich bei Hatje Cantz nachgefragt. Zufällig war es damals die Programmleiterin des Verlags, die von meiner Idee sehr angetan war. Dann ging alles recht schnell, sodass im Juni zur Art Basel das Buch schon fertig war. Es waren ein paar glückliche Umstände dabei, wenn man so will.

 

Auch was alles danach passiert ist – wie ein Märchen eigentlich. Der Verlag hat das Buch ebenfalls in englischer Sprache herausgebracht und somit hatte ich aus der ganzen Welt Post bekommen. Frauen, die wieder auf Bäumen geklettert sind und Dankesbriefe schrieben für die Inspiration mal wieder auf einen Baum zu klettern. 

 

Es ist so schön mit den Bildern, die ein neues Leben erfahren haben, so viel Freude in die Welt gebracht und Menschen damit glücklich gemacht zu haben. Das macht mich selbst sehr glücklich. 

 

Auch interessante Fotos, die ich auf deinem Blog entdeckt habe, sind die schlafenden Frauen.

 

Ja, da ist so viel Liebe in den Bildern. Man sieht eigentlich nur eine Frau, aber man spürt auch gleichzeitig die Person, die fotografiert. Das ist so ein intimer Moment. Die schlafen ja nicht, die schließen nur die Augen und das kenn man selbst auch, wenn man nicht fotografiert werden möchte, aber es trotzdem zulässt. Entweder man dreht sich um, wenn es einem unangenehm ist, oder man schließt die Augen, weil man einfach verliebt ist und lässt es zu. Weil man in dem Moment spürt, dass die andere Person, die einen fotografiert, einen liebt. Das ist sehr komplex und deshalb so besonders schön.

© Jochen Raiß
© Jochen Raiß

Wie ist der Name deines Blogs IM_PERFEKT entstanden?

 

IM_PERFEKT steht für mich als nicht abgeschlossene Vergangenheit. Die sprachliche Komponente beschreibt den Zustand der Bilder. Der Moment, der da festgehalten wurde, ist nicht zu Ende, sondern geht weiter. 

 

Interessiert dich die wahre Geschichte hinter den Bildern?

 

Nein, es sind viele Geschichten möglich. Das sind verloren gegangene Bilder und wenn ich sie finde, kann ich sie bewahren und archivieren und gebe ihnen eine neue Bedeutung, eine neue Geschichte. Und irgendwann erfahren sie noch mal eine andere Geschichte, wenn ich nicht mehr da bin, und das ist das Schöne dabei. 

 

Aktuell ist dein viertes Buch Eisbären erschienen. Wie entsteht eine Sammlung wie diese?

 

Ich sage mal so: Mich interessieren Menschen auf Bildern in ungewöhnlichen Situationen. Frauen auf Bäumen und Menschen in Eisbären Kostümen sind ebenfalls eine ungewöhnliche Situation. Wie mit den Frauen auf Bäumen habe ich vor langer Zeit eins der ersten Bilder mit Eisbären in Frankfurt gefunden und seither gesammelt. 

 

Menschen in Eisbären-Kostümen ist ein rein deutsches Phänomen bzw. als Trend in den 20er Jahren entstanden. Wahrscheinlich war es so, dass ein/e Fotograf/in die Idee hatte Touristen mit einem Eisbären zu fotografieren. Es war vielleicht viel überzeugender Menschen mit einem Eisbären zu fotografieren, als nur mit dem Meer im Hintergrund. Und dann war es so erfolgreich, dass es andere nachgemacht haben. Und das hat sich bis in die 50er, 60er Jahre auf andere deutsche Touristenorte wie Harz, Zoos, Schloss Neuschwanstein ausgebreitet. Allerdings ist dies in den 60er Jahren fast verschwunden, als fast jeder einen Fotoapparat sich leisten und seine Urlaubserinnerungen selbst knipsen konnte. 

Hast du bei dir vielleicht irgendwelche Bilder sogar aufgehängt?

 

Ja, ein paar hängen tatsächlich bei mir zuhause. Da ist zum Beispiel das erste Bild, dass ich gescannt habe. Es ist ein sehr schönes Bild und hat eine besondere Bedeutung für mich. 

 

Gibt es ein Bild mit einer Person drauf, die du gerne treffen würdest? 

 

Spontan würde ich sagen, viele – aus verschiedenen Gründen. Es kann die Situation sein oder die Umgebung, in der das Foto entstanden ist oder einfach nur die Person, die mich fasziniert. Tatsächlich bin ich immer in den Bildern, wenn ich sie finde. Ich bin bei den Leuten und erlebe die Situation noch mal mit ihnen. Das ist eigentlich das Schönste, der Moment, in dem ich die Bilder entdecke und sofort das Kopfkino beginnt … 

 

Danke Jochen für deine Inspiration!

© Jochen Raiß

Weitere Interviews